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Mit Kindern Zukunft gestalten

Der Beteiligungsprozess in der LOSLAND Kommune Ottersberg drehte sich um die Frage: Wie kann es gelingen, dass sich Kinder, junge Erwachsene und ältere Menschen auch in Zukunft in Ottersberg wohlfühlen. Aus der Frage geht hervor, dass auch die Sicht von Kindern einbezogen werden sollte. So fand in Ottersberg neben dem Bürgerrat mit Erwachsenen und Jugendlichen eine Zukunftswerkstatt mit Kindern der vierten Klasse statt – begleitet von Jens Zussy und Claudia Brunsemann. Im Blogeintrag berichten die beiden, wie man mit Kindern Zukunft gestalten kann.

Es riecht nach Klebstoff und ein wenig nach Farbe, dazu der Klang von Hämmern und Sägen. Wortfetzen von Fachgesimpel über Sitzgelegenheiten, Fußballplätze, einen Entensee, Spielmöglichkeiten und das Zusammenleben von Jung und Alt schallen am 15. Juni durch den Werkraum der Grundschule Posthausen in Ottersberg. 17 Schüler*innen der 4b sammeln in einer Zukunftswerkstatt kreative Ideen, schmieden Pläne und bauen Modelle.

Die Kinder sind hochmotiviert, denn sie gestalteten nach ihren Ideen – aus Kartons, Recycling-Werkstoffen und Naturmaterialien, Biegeplüsch und Glitzer – Modelle für eine für alle Generationen lebenswerte Zukunft in Ottersberg. Zum Abschluss des Tages hat sich Bürgermeister Tim Willy Weber angekündigt. Er hat zuvor mit der Steuerungsgruppe des Ottersberger LOSLAND Prozesses entschieden, die Kinder-Zukunftswerkstatt auszurichten. Wenige Tage später sollen die Ergebnisse der Zukunftswerstatt gemeinsam mit den Ergebnissen des Bürgerrates der Erwachsenen im öffentlichen Bürgerforum vorgestellt werden.

Zukunftswerkstätten nach Robert Jungk

Zukunftswerkstätten sind ein Workshop-Format zur kreativen Gestaltung von Zukünften. Es werden darin aktivierende Diskussions- und Analyseverfahren, spielerische, teils sehr exotische Kreativitätstechniken sowie unterschiedliche Präsentationsformen genutzt. Durch diese methodische Flexibilität und Vielfalt ist die Zukunftswerkstatt für ein breites Spektrum von Teilnehmer*innen unterschiedlichen Alters aus den verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen ein ideales Verfahren zur Planung von Projekten und Lösung von Problemen. Zukunftswerkstätten ermöglichen es den Teilnehmenden mit Spaß und Elan ihre Expertise einzubringen, sich gemeinsam intensiv mit einem Thema auseinanderzusetzen und kooperativ gute Ergebnisse zu erzielen.

Entwickelt wurde die Zukunftswerkstatt bereits Mitte der 60er Jahre von Robert Jungk, einem Journalisten, Zukunftsforscher und Ehrenpreisträger des Alternativen Nobelpreises 1986. In einer „klassischen“ Zukunftswerkstatt nach Jungk durchlaufen die Teilnehmer folgende Phasen mit ihren entsprechenden Zielen:

  1. Vorbereitungsphase zum Kennenlernen der Teilnehmenden, zur Einführung in die Arbeitsweise, zur Klärung organisatorischer Fragen und zur Einstimmung auf das Thema.
  2. Beschwerde- und Kritikphase zur Sammlung von Kritik zum Thema der Werkstatt
  3. Phantasie- und Utopiephase zur Ideensammlung und Visionsentwicklung zum gewünschten Idealzustand des Werkstatt-Themas.
  4. Verwirklichungs- und Praxisphase zur kritischen Prüfung der Ideen und Ausarbeitung erster Handlungsschritte zum Verwirklichen des geplanten „Idealzustandes“ des Werkstatt-Themas.
  5. Nachbereitungsphase zur Protokollierung der Ergebnisse und weiterer Arbeit an den Themen
Die Kinder-Zukunftswerkstatt – ein besonderes Format

Als klar war, dass in Ottersberg auch Kinder beteiligt werden sollen, wurde als Methode die Zukunftswerkstatt gewählt, da diese Kinder durch die angstfreie, lockere Arbeitsatmosphäre und durch die spielerische Methodik besonders anspricht. Um die in Workshops üblichen Rollenfindungsprozesse zu umgehen, wurde beschlossen, die Kinder nicht einzeln auszulosen (wie im LOSLAND Bürgerrat der Erwachsenen), sondern mit einer kompletten Schulklasse zu arbeiten.

Die Wahl fiel dabei auf eine vierte Klasse der Grundschule Posthausen. Die Klassenlehrerin Doris Benger-von Ahnen und ihre Klasse 4b zeigten großes Interesse, sich in dieser Form am LOSLAND Prozess in Ottersberg zu beteiligen. Mit Unterstützung der Schulsozialarbeiterin Stephanie Hobbensiefken nahmen sie sich einen ganzen Tag Zeit, um ihre Visionen für Ottersberg zu entwickeln.

Die Vorbereitungsphase

Pünktlich um 8:15 Uhr begrüßen wir als Moderationsteam die anwesenden Kinder, ihre Klassenlehrerin sowie die Schulsozialarbeiterin und erklären die Zielsetzungen des Tages: Die Kinder werden eingeladen, als „Expert*innen in eigener Sache“ Ottersberg und Umgebung in den Blick zu nehmen und Ideen für ein zukünftiges ideales Ottersberg zu entwickeln, in dem sich alle Generationen wohlfühlen.

Anschließend sollen sie der Politik und der Verwaltung ihre Empfehlungen mit auf den Weg geben, was aus Kindersicht von besonderer Bedeutung ist. In der Einführung in die Werkstatt ist es besonders wichtig, den Kindern transparent zu machen, dass es darum geht, Empfehlungen und Ideen aus Sicht aller Altersgruppen in Ottersberg zu sammeln – eben auch aus der Sicht der Kinder. Ob einige ihrer Ideen konkret umgesetzt werden können, wird sich erst im weiteren Prozess klären. In jedem Fall aber fließen die Empfehlungen der Kinder in alle weiteren Überlegungen und Planungen des Fleckens ein!

Nach einem kleinen Kennlernspiel folgt eine kurze Einführung in die Phasen und Regeln der Zukunftswerkstatt. Der Hinweis darauf, dass sich Bürgermeister Weber zur Präsentation angekündigt hat, verdeutlicht den Schüler*innen den Stellenwert ihrer Arbeit in der Zukunftswerkstatt und zeigt, dass die Beteiligung der Kinder am LOSLAND-Prozess von der Gemeinde gewollt ist und unterstützt wird.

Die Kritikphase

Diese Phase ermöglicht es den Kindern in einer Art Katharsis ihren Kopf freizubekommen, indem sie ihren mit dem Thema verbundenen Unmut äußern, um im weiteren Verlauf der Werkstatt „unbelasteter“ arbeiten zu können. Unter den Leitfragen „Was nervt dich in Ottersberg? Was ist doof für Kinder?“ sammeln sie auf orangenen DIN-A4-Bögen, den „Motzmauersteinen“, ihre negativen Kritikpunkte und kleben diese in ihre „Motzmauer“, ein zwei Meter großes Plakat.

Abschließend reflektieren wir gemeinsam ihre Ergebnisse. Schwerpunkt der Reflexion ist beispielsweise der ÖPNV: Vor allem kaputte Bushaltestellenhäuschen und fehlende Sitzgelegenheiten in den Bussen werden bemängelt. Die Spielplätze sind aus Sicht der Kinder oft vermüllt und deren Spielgeräte defekt und nicht für ältere Kinder geeignet. Auf den Straßen befinde sich ebenfalls viel Müll, dafür aber ein zu geringer Bestand an Sitzbänken. Auch in 30-km/h-Zonen führen die Autos häufig zu schnell.

Zu unserer Kritikphase nehmen wir auch positive Rückmeldungen der Kinder auf. Hierdurch werden die vorhandenen Ressourcen Ottersbergs und Umgebung sichtbar. Ebenso das, was aus Sicht der Kinder auf alle Fälle erhalten bleiben soll. Die Kinder erfassen unter den Leitfragen „Was ist in und um Ottersberg schon gut für Kinder? Was soll unbedingt so bleiben?“ ihre persönlichen Highlights und gestalten damit auf Papiersternen ihren „Walk of Fame“. Zu den häufig genannten Punkten gehören dabei die Natur, die schöne Umgebung, dass alles sehr nah beieinander und mit dem Fahrrad zu erreichen ist, sowie das Schwimmbad, Einkaufsmöglichkeiten und der Dönerladen. Auch die schönen Spielplätze und die Schule mit ihren schönen Projekttagen zählen zu den „Stars“ der 4b.

Die Phantasiephase

Nach einem kreativen Ideenlockerungsspiel sind die Kinder gut vorbereitet, ihre Ideensammlung anzugehen. Zur Einführung in die Phantasiephase verweisen wir noch einmal auf das Ziel und die Regeln dieser Phase. Ab jetzt ist das Kritisieren vorbei. Nun geht es darum, möglichst viele phantastische Ideen zu sammeln und auszuarbeiten. Unter dem Motto „Unsere Ideen für Jung und Alt in und um Ottersberg – so wäre es ideal!“ sammeln sie in vier Kleingruppen, die von der Klassenlehrerin, der Schulsozialarbeiterin sowie dem Moderator*innenteam begleitet werden, auf Moderationskarten ihre Ideen zu sieben Kategorien:

  1. Natur und Naturbeobachtung
  2. Mitbestimmungsmöglichkeiten
  3. Verkehr (Schulweg, Radfahren, Busfahren…)
  4. Stadtgestaltung für Jung und Alt
  5. Aktionen für Jung und Alt
  6. Freizeit, Sport und Spiel
  7. und außerdem…

Nach der Mittagspause und einem weiteren Energizer sucht sich jedes Kind eines der entstandenen Themen aus, an dem es intensiv weiterarbeiten will. So entstehen die Arbeitsgruppen Freibad, Fußballplatz, Stadion, Gemeinschaftspark für Ottersberg, sowie „JKSP – Jedem Kind seinen Platz“.

Modellbau als Element der Phantasiephase

Im ca. 90-minütigen Modellbau ist es wichtig, dass für alle Kinder genügend hochwertige Werkzeuge und eine große Auswahl an unterschiedlichen Modellbaumaterialien zur Verfügung stehen. So können sie ihrer Kreativität freien Lauf lassen und dreidimensionale Modelle von ihrem idealen Ottersberg für Jung und Alt bauen. Dieser Modellbau kann besonders für jene Kinder wichtig sein, die eher introvertiert sind oder sich nicht gern schriftlich ausdrücken. Im Modellbau kommen alle Kinder zum Zuge und gestalten ihre Ideen in Miniatur, die sie stolz und selbstbewusst Erwachsenen präsentieren können.

Die Verwirklichungs- und Praxisphase

Entgegen der Konzeption von Robert Jungk verzichten wir bei unseren Zukunftswerkstätten mit Kindern auf die Verwirklichungs- und Praxisphase und orientieren uns dabei an einem Konzept von Prof. Dr. Waldemar Stange. Nach langer kreativer Arbeit ist den Kindern nur schwer zuzumuten, noch in die etwas „trockenere“ Planungsphase einzusteigen. Dieser Teil kann auch auf einen späteren Termin „ausgelagert“ werden – wie im Fall von Ottersberg, wo sie in den LOSLAND-Gesamtprozess integriert ist.

Interne Präsentation mit dem Bürgermeister

Abschluss und einer der Höhepunkte der Zukunftswerkstatt in Ottersberg ist die Vorstellung der Modelle. In einer halbstündigen Präsentation stellen die Kinder alle in der Werkstatt entstandenen Ergebnisse ihrem Bürgermeister vor. Die Motzmauer sowie den Walk of Fame und die Ideensammlung präsentierten die Kinder selbstbewusst und professionell, anschließend geht es im Wanderplenum in den Werkraum, wo jede Expert*innen-Gruppe ihr Modell und dessen zahlreiche Details und Besonderheiten vorstellt.

Bürgermeister Weber fragt interessiert nach, kommt schnell mit den Kindern ins Gespräch und erteilt jeder Gruppe Lob und Anerkennung für ihre Arbeit. Sichtlich beeindruckt über Vielfalt und Detailtreue der Ergebnisse erklärt er den Kindern, wie wichtig ihre Sicht auf ein gutes Leben mit allen Generationen in Ottersberg ist.

Abschluss: Ausblick und Feedbackrunde

Abschließend gibt es einen Ausblick, wie der Prozess weitergeht. Den Kindern und ihren Eltern wird eine Einladung ins Forum ausgesprochen, in dem die Kinder ihre Ergebnisse noch einmal im großen Rahmen öffentlich präsentieren. Die Kinder geben ihrer Begeisterung von ihrer Arbeit in der Werkstatt und ihren Ergebnissen Ausdruck. Nach eigenen Aussagen hätten sie gern auch noch die eine oder andere Stunde an den Themen weiterarbeiten können. Auch in dieser Veranstaltung zeigt sich somit, dass Kinder sehr von dem spielerischen Konzept des handlungs- und produktorientierten Arbeitens der Zukunftswerkstatt angesprochen werden.

Die kindliche Lust am Phantasieren, Gestalten und Präsentieren, konnte hier mit Freude ausgelebt werden. Kinder verfügen durch ihren Erlebniskosmos über eigene, für die Gesellschaft sehr wichtige Erfahrungen. Ihre Sicht auf die Dinge ergänzt in wertvoller Weise die Gestaltung der Gemeinde, umgekehrt wird das weitere Engagement der Kinder durch diese Werkstatt gestärkt.

Bürgermeister Weber resümiert: „Die Kinder haben 49 Empfehlungen und Vorschläge in knapp sechs Stunden erarbeitet. Da waren Luftschlösser (Freibad), aber auch konkrete Ideen wie Bänke für Senioren auf Spielplätzen, Spielflächen in unmittelbarer Nähe von Seniorenheimen oder regelmäßige Gespräche mit Kommunalpolitikern dabei. Wenn wir künftig wieder eine Frage haben, wenden wir die Methode gerne wieder an.“ Weber hat angekündigt, die Kinder im September noch einmal zu treffen wollen.

Fotos: Jens Zussy

Die Ergebnisse der Zukunftswerkstatt

Die Ergebnisse vom Bürgerforum

(c) Alexandra Schmied

Claudia Brunsemann und Jens Zussy gehören zum Team von „Planen mit Phantasie” und sind ausgebildete Dipl. Sozialarbeiter/-pädagogen. Sie sind spezialisiert auf kinderfreundliches und jugendgerechtes Planen, moderieren u. a. Zukunftswerkstätten, World-Cafés und Beteiligungsspiralen und führen Fortbildungen rund um das Thema Beteiligung durch. Foto: Alexandra Schmied