Wie kam es eigentlich zu Losland? Die Idee für das Projekt geht auf eine Initiative der Partizipationsexpertin Patrizia Nanz und der Journalistin Marie von Mallinckrodt zurück. Im Gespräch mit Charlotte Bernstorff vom Losland Team erzählen sie, welche Gedanken hinter dem Projekt stehen.
Charlotte: LOSLAND unterstützt zehn Kommunen deutschlandweit dabei, vor Ort sogenannte geloste Zukunftsräte durchzuführen und die Bürgerinnen und Bürger stärker in die politische Entscheidungsfindung einzubeziehen. Wie ist diese Idee entstanden?
Marie: Als ich das erste Mal über einen gelosten Bürgerrat gelesen habe, war ich sehr angetan von diesem Konzept. Es war eine Reportage über die Citizens’ Assembly in Irland. In einer Zeit, in der Parteien an Anziehungskraft verlieren, so zeigt das Beispiel, können Bürgerräte ein gutes Mittel sein, um die Bürgerinnen und Bürger in eine demokratische Auseinandersetzung zu bringen und einer Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Ich habe mich gefragt, ob es auch in Deutschland Pläne in diese Richtung gibt. Und so bin ich auf Patrizia und ihr Buch „Die Konsultative“ gestoßen.
Patrizia Nanz ist Demokratie- und Partizipationsexpertin. Bis Januar 2021 war sie wissenschaftliche Direktorin am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) und Professorin für transformative Nachhaltigkeitswissenschaft an der Universität Potsdam. In dieser Funktion nahm Marie von Mallinckrodt, langjährige Politikjournalistin, Kontakt mit ihr auf.
Marie: Ich kam aus meiner Gedankenwelt als Parlamentsbeobachterin und Korrespondentin, die sich mit Bundespolitik befasst und habe mich sehr mit der Frage beschäftigt: Wie ist es eigentlich um den demokratischen Zusammenhalt bestellt? Ich habe zu der Zeit eine große Koalition erlebt, die sich viele Gedanken darüber machte, wie wir unsere Parteien für die Zukunft reformieren können, sodass sie wieder mehr Mitglieder bekommen. Jetzt leben wir in einer Zeit, in der es notwendig ist, sich darüber Gedanken zu machen, wie die Demokratie im 21. Jahrhundert lebendig und praktisch gelebt werden kann.
Patrizia: Bei mir gab es auch einen biografischen Hintergrund. Ich wollte vom rein Wissenschaftlichen und der Politikberatung, wo man nicht wirklich in der Hand hat, ob etwas umgesetzt wird oder nicht, einen Schritt weiter gehen. Ich hatte das Gefühl, jetzt ist der Moment gekommen, in dem das Reden aufhört und das Tun anfangen sollte. In dieser Situation hat Marie mich kontaktiert.
Charlotte: Worüber habt Ihr Euch bei Eurem ersten Treffen ausgetauscht?
Patrizia: Wir beide haben viel Hannah Arendt gelesen und uns mit ihrer Definition der politischen Freiheit befasst – das war unsere Brücke. Arendts Begriff der Natalität, der aus der Existenzphilosophie kommt, geht davon aus, dass ein Mensch nur dann wirklich frei ist, wenn er die Möglichkeit hat, neu anzufangen und etwas Eigenes zu starten.
Marie: Das ist etwas, woran ich im Politischen sehr stark glaube. Dieses neu Anfangen und Anpacken hat sich später in den Begriff LOSLAND übersetzt. Ich erinnere mich, dass wir über die meinungsbildende Funktion der Parteien gesprochen haben, aber auch über die der Medienlandschaft. Es ist eine Binsenweisheit, dass sich die Öffentlichkeit immer mehr zersplittert in Teilöffentlichkeiten und wir quasi keine gemeinsame Welt mehr haben, auf die wir uns beziehen. Ohne diese gemeinsame Welt ist für Hannah Arendt gar kein politisches Handeln möglich. Diese Welt muss im Tun und im Sprechen von verschiedenen Perspektiven hergestellt werden. Und das ist genau das, was ein Bürgerrat durch die Zufallsauswahl ermöglicht, Leute aus verschiedenen Milieus zusammenzubringen und diese Öffentlichkeit herzustellen.
Patrizia: Es geht dabei gar nicht vordergründig nur um die Demokratie, sondern darum, das Gefühl der Selbstwirksamkeit zu erleben: Ich mache etwas gemeinsam mit anderen und am Ende steht ein Ergebnis. Ich habe viele Menschen interviewt, die an Losprozessen teilgenommen haben und sie berichteten mir, dass sie die Begegnung mit anderen und das gemeinsame Gestalten als extrem bereichernd empfunden haben, dass sie aus der Einsamkeit rausgekommen sind und noch mal ganz anders Sinnhaftigkeit erlebt haben in ihrem eigenen Dorf oder ihrer Gemeinde.
Charlotte: Und wie wurde aus diesen Gedanken das LOSLAND Projekt?
Patrizia: Irgendwann haben wir gesagt: Jetzt müssen wir etwas tun und konkret werden. Ich kannte aus Vorarlberg die Projektschmieden und habe mit dieser Methode zur Schärfung von Ideen gute Erfahrungen gemacht.
Marie: Wir wollten einen Raum schaffen, in dem Menschen aus unterschiedlichen Bereichen zusammenkommen, um die Gedanken weiterzuentwickeln. In den Projektschmieden waren unter anderem eine Künstlerin, ein Bundestagsabgeordneter, eine Europaabgeordnete, jemand aus dem Ministerium, zwei Bürgermeister, zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Journalisten dabei.
Patrizia: Uns ist in den Projektschmieden ziemlich schnell klar geworden, dass wir Bottom-up bei den Kommunen ansetzen müssen. Dort hat man den größten Hebel und ist nah dran an der Lebensrealität der Bürgerinnen und Bürger.
Marie: Wie ein Bürgermeister, der dabei war, immer sagt: Die Kommunen sind die Herzkammer der Demokratie.
Charlotte: Ist Dezentralisierung die Antwort auf die komplexen Herausforderungen, die sich uns gerade stellen und ja auch global sind?
Patrizia: Dezentralisierung und Selbstorganisation sind sicherlich gute Ansätze, um komplexe Probleme lösen zu können. Die Frage ist, wie wir kollektive Intelligenz so organisieren können, dass „höhere Ebenen“ der Politik (Land, Bund, EU) von lokalen Innovationen profitieren können. Den Umbau der Gesellschaft, die viel beschworene sozial-ökologische Transformation, machen de facto die Kommunen. Ich denke, der Bund könnte viel von den Kommunen lernen. Das passiert bisher noch gar nicht oder viel zu wenig.
Marie: Wir waren schon früh mit tollen Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern im Gespräch und dachten uns: Wenn wir diese und die vielen engagierten Menschen in den Kommunen in Deutschland zusammen brächten, dann könnten wir einen Schatz heben.
Charlotte: Und welche Rückmeldungen habt ihr von den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern bekommen?
Marie: In den Gesprächen haben wir gemerkt, dass sich viele von ihnen große Sorgen und Gedanken um die Zukunft unserer Demokratie machen. Ich glaube, es ist wichtig zu betonen, dass wir nie mit der Einstellung rangegangen sind, dass unser repräsentatives System grundlegend erneuert werden muss, sondern dass es eine Ergänzung und Unterstützung braucht. Und genau das haben wir bei den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern auch gespürt, die gesagt haben: Wir spüren eine gesellschaftlich zugespitzte Stimmung und kämpfen hier mit manchen Sachen, zum Beispiel mit der Polarisierung einer Gemeinde, alleine auf weiter Flur.
Patrizia: Viele von ihnen haben sich die Zeit genommen, mit uns zu sprechen. Für sie war die Vorstellung, sich mit anderen Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern austauschen zu können, die wie sie innovativ sein wollen, sehr stärkend, weil es schwer ist zu wissen, wo man überhaupt anfangen soll. Es ist typisch für Innovation, dass diejenigen, die voranschreiten wollen, oft einsam sind und sich vernetzen müssen, um Kraft zu entwickeln. Und vielleicht zu einer Bewegung zu werden. Zum anderen fanden sie die Idee spannend, die Bürgerinnen und Bürgern mehr einzubeziehen. Es fehlen aber oft das Wissen, wie gute Bürgerbeteiligung gelingt und die Ressourcen, um sich Beratung zu holen.
Marie: Viele Verwaltungen platzen aus allen Nähten und es ist für sie kaum machbar, über die Pflichtausgaben hinaus zu gestalten und zusätzlich weitere Projekte anzuschieben. Die Idee war, dass wir mit LOSLAND zehn Kommunen deutschlandweit dabei unterstützen, gute Beteiligungsprozesse durchzuführen.
Patrizia: Am Ende wollten wir die Prozesse auf kommunaler Ebene so ernten, dass ein Mosaik entsteht und wir sagen können: Schaut mal her, wie könnte denn Deutschland dastehen, wenn alle Kommunen sich auf den Weg machen würden, auf diese Weise Politik zu machen. Und was brauchen die Kommunen an Rahmenbedingungen vom Bund, um kreativ gestalten zu können, damit wir die Transformation auch wirklich hinkriegen?
Aus der in den Projektschmieden konkretisierten Idee entstand der Plan, Losland als ein Projekt des IASS Potsdam und Mehr Demokratie als Träger umzusetzen. Der Verein setzt sich seit Jahrzehnten für die Stärkung der Demokratie und Bürgerbeteiligung auf allen Ebenen ein. Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, zeigte sich sehr angetan von dem Konzept. Nach Prüfung des Projektantrags folgte die Bewilligung und die Bundeszentrale übernahm die Förderung von Losland.
Charlotte: Wenn wir davon ausgehen, dass sich Demokratie stets im Wandel befinden und weiterentwickeln muss: Wie sieht unsere Demokratie von morgen aus? Wie kann der gesellschaftliche Wandel gelingen?
Patrizia: Bürgerräte brauchen dringend eine Form von Verzahnung der Ergebnisse mit dem politischen Handeln, entweder des Parlaments, der Ministerien oder Fachstellen auf kommunaler Ebene. Ohne diese Verzahnung macht Bürgerbeteilung aus meiner Sicht keinen Sinn. Und wenn man dort hindenkt, müssten die Parlamente sich öffnen und auch die Ministerien müssten viel mehr miteinander kooperieren. Ich denke nicht, dass das politische System bleiben wird, wie es ist. In Anbetracht der komplexen Probleme müsste es ein ganz neues Selbstverständnis entwickeln.
Marie: Ich kann mir vorstellen, dass man Strukturen schafft, in denen sich auch über Deutschlands Grenzen hinaus Bürgermeisterinnen und Bürgermeister zusammenschließen, um z.B. über die Klimaherausforderungen zu sprechen. Das ist in Amerika passiert, nachdem Trump das Pariser Abkommen aufgekündigt hat. Zahlreiche Bürgermeisterinnen und Bürgermeister haben sich zusammengetan und auf Stadtebene trotzdem weiter an den Klimazielen gearbeitet. Das ist eine tolle Initiative, und damit sind wir wieder bei Hannah Arendt und ihrem horizontalen Machtbegriff: Gestaltungsmacht kann nicht per Gewalt kreiert werden. Sie ist nicht etwas, was man innehat, sondern Macht entsteht im Zwischenmenschlichen, indem Menschen miteinander gestalten und aufeinander reagieren.